Informationen rund um die HEIMAT-Trilogie von Edgar Reitz

Edgar Reitz Werkschau in Nürnberg, 28.1.2018

Die Reise nach Nürnberg – auf Stippvisite bei der großen Edgar Reitz Werkschau

Bericht von Thomas Hönemann, 29.01.2018

Beeindruckend. Das, was ich in den vergangenen drei Tagen in Nürnberg erleben durfte, lässt sich mit keinem Wort angemessener zusammenfassen. Beeindruckend. Und berührend.

Eine so umfassende Retrospektive des Gesamtwerkes von Edgar Reitz hat es bisher nicht gegeben. Kaum etwas, was in den zwei Monaten von Nürnberg (5.1.-4.3.) nicht über die Leinwand flimmert. Christiane Schleindl und ihr Team im Filmhaus Nürnberg haben ganze Arbeit geleistet und großen Mut bewiesen, keinen Aufwand gescheut, und der Erfolg gibt ihnen mehr als Recht. Die Nürnberger Retrospektive kommt beim Publikum gut an. Volle Säle, äußerst interessierte und begeisterte Zuschauer, die den vielfach im Kontext der Filme auftretenden Gästen, und davon gibt es viele (siehe Programm), mit großer Neugier und Leidenschaft zuhören. Ihre Fragen offenbaren großen Sinn für Ästhetik, ein lebendiges Interesse für den Blick hinter die Kulissen und die Geschichten hinter den Geschichten, und emotionale Beteiligung ebenso wie den Blick für die historische Bedeutung des Erzählten. Und sie werden nicht müde zu fragen. Gestern, zum Abschluss der HEIMAT, waren Edgar Reitz, Marita Breuer und Karin Rasenack zu Gast. Der Meister und zwei wundervolle Schauspielerinnen, die HEIMAT ganz wesentlich geprägt haben. Und die umgekehrt von HEIMAT geprägt wurden. Über fünfunddreißig Jahre nach Drehschluss stehen sie für ihre Arbeit ein, erinnern sich gerne, wissend, dass damals etwas großes, wundervolles entstanden ist, ein Werk, wie es Edgar Reitz völlig frei von Pathos formuliert, mit dem es das Schicksal gut gemeint hat, das geboren ist aus einer Vielzahl von glücklichen Fügungen, die sich allein mit dem Wort “Zufall” nicht beschreiben lassen.

Und das haben auch die Nürnberger erkannt, allen voran Christiane Schleindl, die Unermüdliche, die zuerst jahrzehntelang für das Filmhaus und nun auch Jahre für diese Retrospektive gekämpft hat, und die nun eine Veranstaltungsreihe geschaffen hat die einzigartig ist. Mit viel Herz und großartiger Sachkenntnis, mit Fingerspitzengefühl und für das Nürnberger Publikum, unter das sich ab und an auch ein Auswärtiger mischt, der unglaublich freundlich, offen und interessiert aufgenommen wird, und gleich das Gefühl hat mitten drin zu sein, in der Gemeinschaft die in den Schabbach-Kosmos abtaucht, und gar nicht wieder auftauchen möchte. Und dann ist da noch Patricia Litten, die äußerst charmant und authentisch mit viel Sachverstand und Empathie in jeden der über 50 Filmabende einführt und die Gespräche moderiert. Ein weiterer Glücksfall. Die Frauen richten es mal wieder.

Gezeigt wird der neue “Director’s Cut” von HEIMAT (erschienen Ende 2015), die ursprünglichen 11 Teile zu 7 Teilen zusammengefasst und an einigen Stellen gekürzt, besonders auffällig im letzten (einst elften) Teil “Das Fest der Lebenden und der Toten”. Plötzlich ist die Polonäse durch den Kuhstall auf eine kurze Sequenz beschnitten, und tauchen die beiden leichten, in Lautzenhausen ansässigen Mädchen (O-Ton “Daggie, du oide Sau!”) nur noch zweimal kurz am Rande auf. Ich meine: ein Segen, oder ein Geschenk. Diese Szenen, von einem Journalisten einst verzweifelt als der (durchaus erfolgversprechende) Versuch Reitz’s gedeutet, den Zuschauer aus dem allzu heimeligen “Schabbach-Gefühl” herauszuholen, habe ich jedenfalls nicht vermisst. Im Gegenteil: durch den Verzicht auf sie eröffnet sich dem empathischen Zuschauer ein noch größerer Raum das eigentliche “Fest der (…) Toten” wahrlich mit zu durchleben, und sich so auf eine würdige, innige Weise von den liebgewonnenen Charakteren zu verabschieden, im Bewusstsein sie sind unsterblich.
Die neue, hochauflösende digitale Version eröffnet weitaus tiefere Blicke als alles zuvor gesehene. Oder hat jemand von Ihnen schon einmal die Träne entdeckt, die Otto beim Fest der Toten im kalten Tanzsaal aus dem linken Auge rinnt, als er mit Maria zur Seite geht und sich an einen Pfeiler lehnt?

Ein absoluter filmischer Genuss also, und das Wundervolle ist, jeder im Publikum nimmt das wahr und weiß es in tiefer Dankbarkeit zu schätzen. Und die Leute fühlen mit, leiden mit, lachen mit. Beeindruckt, berührt.

Auch Edgar Reitz, Marita Breuer und Karin Rasenack nehmen das wahr, genießen die Atmosphäre. Das Interesse ist groß und intensiv, aber niemals aufdringlich. Man spürt, wie viel Freude sie an den Gesprächen haben.

Die Nürnberger Werkschau ist ein Glücksfall, für alle Beteiligten. Für die Macher, die Zuschauer, und nicht zuletzt für Edgar Reitz. Durch sein Zutun wird sie unvergesslich werden. Großes Kino in großer Atmosphäre. Beeindruckend, berührend.

Was bleibt, außer dem wohligen Gefühl und Kunstgenuss? Elene Psoma, die im Filmhaus für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist und insbesondere für den wundervollen Flyer zur Reihe mitverantwortlich zeichnet, zitiert Hans Günter Pflaum: “Würde ein Lebewesen von einem fernen Planeten uns die Frage stellen, welche Filme man sehen müsste, um Auskunft zu bekommen über Deutschland im 20. Jahrhundert, so würde der Heimat-Zyklus von Edgar Reitz wohl zu den wichtigsten Empfehlungen gehören.” (Süddeutsche Zeitung, 21.09.2004, Sie kennen dieses Zitat von der heimat123.de-Startseite). Diese Aussage ist Wertschätzung und Appell zugleich. Das Nürnberger Publikum besteht größtenteils aus Menschen, die 1984 bereits als (junge) Erwachsene ihr Herz für HEIMAT entdeckt haben. Sie sind heute im Rentenalter und genießen die Wiederbegegnung mit den Filmen auf das Tiefste. Junge Menschen sieht man nur sehr vereinzelt im Publikum, aber wenn dann mit großer Neugier und Ergriffenheit, so wie das junge, sympathische Paar, mit dem ich nach dem Film spreche. Die beiden wissen zu berichten, wie schwer es ist, Gleichaltrigen HEIMAT zu erklären und nahe zu bringen – wie denn auch, man muss sie einfach gesehen haben. Und obwohl Serien heutzutage wieder Hochkonjunktur haben, und sich deren Macher oft sogar direkt auf Edgar Reitz und HEIMAT beziehen (wie zuletzt Tom Tykwer im Kontext von “Babylon Berlin”), scheitert HEIMAT dann doch oft viel zu schnell an den drei üblichen (aber nicht allzu hohen) Hürden: Entschleunigung, Schwarzweiß, Dialekt. Würde sich das Lebewesen von einem fernem Planeten darauf einlassen? Bedeutender ist, dass es die heutigen jungen Erdenbürger tun, so wie meine eigenen Kinder in einem völlig verregneten Herbsturlaub in Friedrichskoog. Ein Glücksfall für mich und für sie. Und ein Beispiel das zeigt, es geht. Unter einer einzigen Bedingung: sich Zeit nehmen, sich darauf einlasen, sich einfühlen. Du wirst dafür belohnt.

Zum Schluss noch ein ganz herzlicher Dank an Christiane Schleindl für die Einladung und die wundervolle persönliche Betreuung vor Ort. Die Reise nach Nürnberg war in Kilometern gemessen kein Katzensprung. Aber wie unbedeutend wird das, wenn du zu Hause losfährst und woanders wieder zu Hause ankommst? HEIMAT ist vielmehr ein Gefühl als ein Platz. Auch das wird zurzeit in Nürnberg erfahrbar, mit Herz und Verstand. Nutzen Sie diese einmalige Chance.

Einen weiteren Bericht vom Abschluss der Retrospektive finden Sie hier.

Bildernachlese Nürnberg, 28.01.2018