Informationen rund um die HEIMAT-Trilogie von Edgar Reitz

Berlinale Kamera 2024 für Edgar Reitz

Für sein Lebenswerk wurde Edgar Reitz gestern (22.2.24) mit der Berlinale Kamera ausgezeichnet. Im sehr gut besuchten großen Saal im Haus der Berliner Festspiele verliehen der künstlerische Leiter der Berlinale Carlo Chatrian und die Geschäftsführerin Mariëtte Rissenbeek das handgefertigte Schmuckstück. Als Laudatoren hatten die beiden den im Iran gebürtigen und in Frankreich lebenden Regisseur Abbas Fahdel, Mitglied der Documentary Jury, sowie die Präsidentin der Hochschule für Fernsehen und Film München Bettina Reitz geladen.

Festivalleiter Carlo Chatrian, Edgar Reitz mit der Berlinale Kamera, Abbas Fahdel und Bettina Reitz

Zunächst machte Abbas Fahdel darauf aufmerksam, wie sehr sein Werk durch die Arbeit von Edgar Reitz geprägt sei. Er bezeichnete Edgar Reitz als einen wahren Meister seines Faches, der einen völlig neuen Weg des Filmemachens erfunden habe. Er stellte HEIMAT auf eine Stufe mit Filmen wie Citizen Cane, Panzerkreuzer Potemkin und Fellinis Roma. Mit der Ehrung könne er Reitz ein wenig von dem zurückgeben, was er ihm selbst gegeben habe.

Bettina Reitz konstatierte, es sei “Edgar Reitz komplexes und künstlerisch substanzielles Verständnis, das ihn zu einem Vorbild ihrer Generation werden lässt.” Sie warf die Frage nach so etwas wie einem Hauptschlüssel auf, “woher stammt dieses Selbstbewusstsein, um Ideen zur richtigen Zeit und angstfrei und unabhängig zu entwickeln und stets deiner kreativen und künstlerischen Kraft zu vertrauen?” Als Antwort darauf verwies sie auf wunderbare Partner wie Gert Heidenreich und Salome Kammer, auf seine Neugier für technische Entwicklungen, seine Freude an intellektuellen Auseinandersetzungen und den Hunger nach Wissen und Vertiefung. “Du gehst den Dingen auf den Grund und arbeitest präzise wie ein Uhrwerk. Und so präzise hast du dich auch immer mit deiner Herkunft auseinandergesetzt. Du hast sie verlassen, nicht um zu verdrängen, sondern um zu verstehen. Vielleicht liegt hier ein Schlüssel. Vielleicht meint Heimat deshalb auch sein Lebenspäckchen mit seinen Wurzeln zu verschnüren. Damit aber künstlerisch arbeiten zu können braucht es vielleicht doch noch einen weiteren Schritt. Du hast die Geschichten aus Deiner Heimat zu einer Substanz, deinem persönlichen Wurzelextrakt konzentriert. Mit diesem ‘Hunsrücker Tropfen’ konntest du in die Welt hinaus, sie waren dein Energiespender, deine Kraftquelle, um all deinen künstlerischen Sehnsüchten folgen zu können. Dein Welterfolg bleibt immer mit deinen Wurzeln verbunden. Du hast sie ergründet, verstanden und hast vor allem erkannt, dass man mit ihnen arbeiten kann, denn sie wollen in die Tiefe, in die Breite und dank ihrer Kraft auch immer weiter wachsen.”

Edgar Reitz bedankte sich für die Ehrung mit folgenden Worten:

“Ich bin durch eure Worte zutiefst berührt. Wenn ich versuche, meine Gefühle zu beschreiben, die ich bei dieser wunderbaren Auszeichnung aus euren Händen empfinde, so öffnet sich vor meinem inneren Auge ein weiter Weg über die vielen Höhepunkte meiner Lebensjahre. Neben hunderten von Drehtagen und Kämpfen um die in der Kunst unverzichtbare Freiheit waren es immer die Festivals, die Premieren und die Begegnungen mit dem Publikum, die ich als die Highlights meines Lebens bezeichnen würde. Kein Glück konnte je größer sein als der Augenblick, in dem ich als Filmemacher meinen eigenen Film gemeinsam mit dem Publikum ansehen konnte und beobachten konnte, wie der Film sich vollkommen verwandelt und aus meiner Umklammerung befreit, indem er ein kollektives Erlebnis wurde. Deswegen sind Festivals so wichtig und die eigentliche Kraftquelle der Filmkunst. Unvergleichlich ist für mich der unhörbare Herzschlag der gebannten Zuschauer in einem gefüllten Kino. Immer hat mich die Frage beschäftigt, was das für ein existenzieller Zustand ist, den wir beim gemeinsamen Filmesehen erleben. Ich nannte es einmal den Zustand der höheren Bestimmtheit, den es nur im Kino gibt, und den wir nicht zu Hause und an den Displays erleben. Die Filmkunst gehört in den öffentlichen Raum und nicht in die alltägliche Privatsphäre, in der vor allem der Konsum, der Verschleiß und das Vergessen zu Hause sind.

Immer hat mich auch das Rätsel der Zeit beschäftigt und die Frage, wie sich die erlebte Wirklichkeit und die Vergangenheit in Erinnerung verwandeln und wie aus den Erfahrungen des Lebens so etwas entsteht wie ein Filmprojekt. Wir alle sind letzte Zeugen für Dinge, Personen und Erlebnisse, die mit uns unweigerlich verschwinden werden. Die Zeit nimmt nicht nur uns, sondern auch auch unsere Erlebnisse und Erfahrungen mit ins Ungewisse. Es war Marcel Proust, der dieser Erfahrung sein ganzes Lebenswerk gewidmet hat. Deswegen wurde Proust für mich das große literarische Vorbild, und von ihm habe ich gelernt, dass es in der Kunst einen Augenblick der Erlösung und der Überzeitlichkeit gibt, in dem das Ich von damals und das Ich von jetzt für einen Augenblick verschmelzen. Es war Rüdiger Safranski, der Philosoph, der diesen Punkt der Zeit den ‘lichterlohen Moment’ nannte. Dieser Ausdruck gefällt mir sehr, denn das ist das, was ich als den Moment der Inspiration auch beim Film kenne.

Ich habe mich immer gefragt, wie sich die Menschen früher erinnerten, als es den Film noch nicht gab. Es gab keine Fotografien, die das reale Gesicht der Zeitgenossen aufbewahrten, keine bewegten Bilder, die den Rhythmus der Zeit in der Körperlichkeit der Menschen sichtbar machten, und Goethes letzter Seufzer gegenüber der alles verschlingenden Zeit belegt diesen Schmerz mit dem Satz “Zum Augenblicke möcht’ ich sagen, verweile doch, du bist so schön.” Der Horror des spurlosen Verschwindens muss unerträglich für die Menschen gewesen sein, bevor es den Film gab. Wir Filmemacher haben tatsächlich eine Wunderwaffe in den Händen, mit der wir das permanente Verschwinden unserer Erinnerung abwenden können. Jeder Film ist eine Bastion gegen das Vergessen, denn er schafft eine eigene Zeit, die unseren Träumen eine Chance gibt, zu überleben, und uns trösten kann. Aus Gefühlen und Träumen, aus Bildern und flüchtigen Berührungen, aus ganz kleinen unwichtigen Empfindungen der Trauer und des Schmerzes, des Abschiedes oder des Aufbruchs können wir Filmkunst machen, die sich gegen die Welt der Dinge dauerhaft behauptet. Darin zeigt sich die unsterbliche Kraft der Filmkunst und des Kinos, das wir vielleicht noch gar nicht in all seinen Möglichkeiten entdeckt und verstanden haben. Ich sehe uns als Pioniere, die Filmkunst hat eigentlich erst begonnen, sie ist ja erst hundert Jahre alt, verglichen mit der Musik oder der Literatur eine Sekunde.

Ich danke für die Auszeichnung mit der Berlinale Kamera, einer symbolischen Filmkamera, die mich an zahllose Glücksmomente erinnert, die ich auf meinen filmischen Zeitreisen erleben durfte. Die schöne Trophäe ist ja nicht nur die Anspielung auf ein technisches Gerät, sondern zugleich ein Objekt der Goldschmiedekunst, insofern verkörpert sie das Geheimnis unseres Metiers und erinnert mich auch an den Vater, den Bettina Reitz in ihrer Laudatio erwähnt hat. Und ich danke euch, Mariette und Carlo, dass wir heute hier bei der Berlinale noch einmal den geliebten Zustand der höheren Bestimmtheit mit unserem kleinen Dokumentarfilm erleben dürfen. Sie werden sehen, die Filmstunde_23 kreist wieder um das unergründliche Thema Zeit. Und ich danke für die Laudatio und diese Momente meines Lebens.”1

Einen ausführlichen Bericht zur Premiere von Filmstunde_23 finden Sie hier.

Fußnoten
  1. Transkript: Thomas Hönemann, www.heimat123.de, Zitation bitte mit entsprechender Quellenangabe. []