Im Anschluss an die Verleihung der Berlinale Kamera an Edgar Reitz wurde sein neuer Film (Co-Regie Jörg Adolph) Filmstunde_23 welturaufgeführt.
Jörg Adolph, der als Co-Regisseur vor allem für den Schnitt verantwortlich war (Edgar Reitz: “Ich bin ihm sehr dankbar, er hat aus dem Film das gemacht, was man jetzt zu sehen bekommt, denn ich konnte den Film nicht schneiden, ich bin ja dauernd im Bild, das wäre ein ganz anderer, unerträglicher Film geworden, wenn ich den geschnitten hätte, und der Jörg hat das so schön gemacht, dass wir alle begeistert waren”), leitete ein mit den Worten: “Ich bin sehr gespannt, das ist ein ganz kleiner Film, der aber für uns eine ganz große Bedeutung hat und einen einmaligen dokumentarischen Spezialeffekt enthält, denn wir können mit einem Schnitt einfach 55 Jahre überspringen, das macht der Film einige Male, und ich hoffe, das macht Ihnen genauso viel Freude wie uns.”
SYNOPSIS
„Solange Film nicht an der Schule gelehrt wird, nehmen wir die wichtigste Revolution der menschlichen Bildung nicht zur Kenntnis.“- Béla Balász
Im Jahr 1968 verwandelt sich das Klassenzimmer eines Münchner Mädchen-Gymnasiums unter der Leitung des Jung-Regisseurs Edgar Reitz in ein Filmstudio. Die „Filmstunde“ beginnt: der in der Filmgeschichte erste dokumentierte Versuch, Filmästhetik als eigenständiges Fach zu unterrichten. 2023: Edgar Reitz, der weltberühmte Regisseur der Heimat-Trilogie, wird von einer älteren Dame angesprochen. Sie gibt sich als eine seiner damaligen Schülerinnen zu erkennen. Sie verabreden ein Klassentreffen.
Montiert aus einem Dokumentarfilm über das damalige Projekt, den Super-8-Filmen der Schülerinnen und dem gefilmten Wiedersehen im Jahr 2023 entsteht eine Art Langzeitbelichtung der letzten 55 Jahre Filmgeschichte. Zeigte sich der Keim ihrer Persönlichkeit bereits in dem kleinen Übungsfilm? Und was sagen die Damen heute zur Filmkultur der Gegenwart? FILMSTUNDE_23 ist eine Liebeserklärung an das Filmemachen und ein Appell, Filmbildung endlich in die Schulen zu bringen. Ein Film über Lebenszeit und die immer noch unerlösten Möglichkeiten der Filmkunst.1
Filmgespräch
Im anschließenden Filmgespräch berichtet Edgar Reitz von einer spürbaren unsichtbaren Chemie zwischen den beteiligten Menschen. “Wir haben das ja 50 Jahre lang nicht gesehen, und plötzlich stellt sich heraus, wenn wir uns verabreden, funktioniert alles von alleine, das heißt die Weichen waren schon gestellt ohne dass wir das geahnt hatten. Das ist das Wunder bei diesem kleinen Film, der hat sich sozusagen ganz von alleine erzählt, weil alle Beteiligten schon das Programm dafür in sich trugen ohne das zu wissen. Man musste nur einen kleinen Anstoß geben und das lief, (…) nicht nur mit den Protagonistinnen und mir, sondern auch mit der Produktion und dem Team. Wir kannten das ja alle, wir hätten bei einer anderen Gelegenheit wahnsinnig ringen und kämpfen müssen, nur um uns wieder zusammenzubringen, aber hier genügte ein kleiner Stups, und schon wusste jeder der Beteiligten, was er zu tun hat. (…) Manche Sachen bekommt man einfach geschenkt.”
Gefragt nach der Bedeutung des ursprünglichen Filmes Filmstunde (1968) für sein Werk räumte Edgar Reitz ein, damals unter enormen anderen Einflüssen gestanden zu haben. “Ich hatte damals meinen zweiten Spielfilm Cardillac gemacht und fand keinen Verleih dafür, und ich war in Kampfstimmung. (…) Ich war immer nur draußen und kämpfte um meinen dritten Film, und ums Dazugehören. (…) Dass wir da [mit Filmstunde] einen so richtigen Weg beschritten hatten, fand keine Fortsetzung. Wenn ich das heute so sehe, wie ich da mit den Mädchen spreche, das erinnert mich sehr an die Art, wie ich Regie geführt habe. Ich habe stets alle, die mit mir zusammen Filme machten, das ganze Team, auf die gleiche Art und Weise angesprochen.”
Sehr schnell wurde deutlich, welch filmpolitische, bis heute aktuelle Botschaft der Film transportiert, und in welch kämpferischer Weise Edgar Reitz nicht nur in Filmstunde, sondern seine ganze Karriere hindurch sich für die Etablierung des Unterrichtsfaches Film an Schulen eingesetzt hat. Produzent Ingo Fließ gestand ein, dass ihm die hochspannende kulturpolitische Bedeutung des Filmes (“wir haben 55 Jahre lang kulturpolitisch komplett versagt”) nicht gleich klar geworden sei, als Edgar Reitz ihm das Material vorgestellt habe. “In der Rezeption und im Zusammensein mit Ihnen hier heute im Kino wird mir erst klar, welche Kraft dieser kleine Film hat und was er kann und wie er vielleicht auch einen Diskurs anstößt, den wir dringend brauchen.” Und Jörg Adolph ergänzt: “Edgar hatte damals eine Vision, und die brauchen wir heute mehr als je.”
Edgar Reitz verdeutlichte die Bedeutung von Filmbildung mithilfe einer Metapher: “Das Filmemachen ist etwas ähnliches, wie einen guten Wein zu produzieren. Wenn die Leute nicht wissen, was ein guter Wein ist, dann kann man subventionieren soviel man will, werden wir uns nie wirklich entwickeln und befreien können. Eigentlich müsste die Qualität von sich selbst leben können.”
Edgar Reitz betonte in diesem Zusammenhang die Rolle der Festivals als “weltweit die wichtigsten Anstöße für die Filmkunst” sowie die Rolle der “unglaublich leidenschaftlichen Kinomacher wie die Gregors, die sich hier in Berlin über Jahrzehnte für die Verbreitung der Filmkunst eingesetzt haben.” Er sei stolz darauf, mit ihnen die Auszeichnung mit der Berlinale Kamera gemeinsam zu haben. Er forderte daher, dass an den Filmhochschulen auch das Kinomachen gelehrt werden solle. “Wir brauchen nicht noch mehr Regisseure, wir brauchen mehr leidenschaftliche Kinomacher.”
Jörg Adolph ergänzte, er würde es begrüßen, wenn auch Bildungspolitiker den Film sehen würden. Ansonsten seien die Möglichkeiten für Filmunterricht heute so gut wie nie zuvor, jedes Kind verfüge über ein Handy und könnte damit einen kompletten Spielfilm drehen. Dafür brauche man aber auch entsprechend ausgebildete Pädagogen, denn nicht jeder Filmemacher sei pädagogisch so begabt wie Edgar Reitz, der ja sein leben lang ein Filmlehrer war.” “Es wäre das größte, wenn unser Film eine Idee einpflanzt, die dann weitere Früchte trägt.”
Ingo Fließ berichtete spürbar zornig aus seinen Erfahrungen als Vater: “Es ist eine Verwahrlosung im Umgang mit Film im Schulunterricht festzustellen. Da gibt es dann immer pro Bundesland drei Lehrer/innen die es anders machen, sich fortbilden und die dann auch diese Art von Sonderkursen anbieten, aber das ist überhaupt nicht implementiert im Lehrplan, null, sondern der Lehrplan ist ein Produkt der sechziger Jahre mit einer Wissensvermittlung, die völlig obsolet geworden ist. Und das regt mich tierisch auf.” Er wies zudem darauf hin, dass Edgar Reitz bereits vor Jahren ein vollendetes Curriculum für den Filmunterricht an Schulen entwickelt habe, das sei alles verhallt, die Filmindustrie mache sicher genug Angebot an Schulen, “wir schieben und schieben, aber wir kommen in das System nicht herein, weil diese Lehrpläne so gestaltet werden, dass überhaupt kein Platz für diese Art von Unterricht ist. Das know how wäre da! (…) Es ist Zeit, dass die Bildungspolitiker aufwachen und auf uns zugehen und schauen, wie können wir die Lehrpläne entschlacken und öffnen.”
Publikumsgespräch
Ingo Fließ erklärte auf Nachfrage, warum es zwar in Schulen fest etablierten Unterricht zu Literatur und Theater gebe, aber nicht über das Filmemachen: “Wir haben einen kulturellen Abbruch mit dem Dritten Reich und Kino in der Nachkriegszeit nicht mehr wie zuvor als Kunst behandelt wurde, wir haben ja diesen brain-drain durch Vergasung oder durch Migration erzwungen, und uns davon nie wieder erholt. Theater gilt als Kultur, und Kino gilt – sehr vereinfacht und zugespitzt gesagt – immer noch als Kommerz.”
Auch Alice Agneskirchner (Filmemacherin, Komm mit mir in das Cinema – Die Gregors) meldete sich zu Wort und schlug vor, dieser Film könne “sehr gut verwendet werden, um die Mitglieder des Bundestages zu einer Kinovorführung zu bitten, die machen das durchaus, ich finde, das ist der Film dafür, und wenn wir das noch in der Lebenszeit von Edgar Reitz und den Gregors schaffen, wäre das schön”. Ingo Fließ gab gleich ein deutliches Ja zu dieser Idee.
Christiane Schleindl, Leiterin des Filmhaus Nürnberg und Vorstand im Bundesverband kommunale Filmarbeit e. V., betonte, wie wichtig es sei, dass Film auf jeden Fall als Unterrichtsfach gefordert werde. Bei allem Respekt und aller Wertschätzung für die Schulkinowochen und andere private bzw. vereinzelte Bemühungen, das Geniale am Vorschlag von Edgar Reitz sei die Verbindung: “Filme sehen, Filme verstehen und Filme machen – und diese drei Elemente müssen da zusammen sein, und es geht nicht nur darum, mit einer Schulklasse einfach einen Film anzuschauen.”
Zum Lieblingsmoment des Filmes erklärten Reitz und Adolph einhellig den Moment, an dem Edgar Reitz der Gruppe der ehemaligen Schülerinnen die Nizo-Kamera in die Hand gab. Reitz wusste darüber hinaus von einem weiteren besonderen Moment zu berichten:
“Nachdem der Kontakt entstanden war, machte ich mich auf die Suche nach den Super-8-Filmen von damals, und ich suchte in meinem kleinen Archivkeller, und fand die wirklich, 50 Jahre lang hatten die Rollen da in Plastikdosen gelegen, und ich schaute mir das an und sie waren komplett, es fehlte nichts, die Beschriftung stimmte und sogar die Klebestellen waren noch nicht aufgegangen. Das war ein wunderbarer Moment, da winkte plötzlich etwas, das wir damals gemeinsam produziert haben, entgegen und sagte, ‘jetzt ist endlich der Moment gekommen, wo wir aus dieser Büchse entweichen können’.”
Ein Kreis hat sich geschlossen, nach 55 Jahren. Und obwohl dieser Film als eine Art filmpolitisches Vermächtnis von Edgar Reitz angesehen werden kann, ist bisher unklar, ob Filmstunde_23 in die Kinos kommt, denn dazu müsste zunächst ein Verleih gefunden werden.
Ein besonderer Moment
Ein besonderer Moment ereignete sich noch ganz zum Schluss der Veranstaltung, nachdem Edgar Reitz alle am Film Beteiligten, insbesondere seine zahlreich erschienenen einstigen Schülerinnen, inzwischen um die 68 Jahre alt, auf die Bühne bat. Aus der Tiefe des Raumes näherte sich ein lang-grauhaariger Herr in Jeans und mit lässigem blauen Pullover der Bühne und ging zögerlich die Stufen hoch: Thomas Mauch, der 1968 als Kameramann bei den Filmstunden im Münchner Luisengymnasium dabei war. Als Reitz ihn entdeckte, entwickelte sich zwischen den beiden ein kurzes Gespräch, und Reitz griff sichtlich überrascht und bewegt zum Mikrofon, um Mauch vorzustellen und ihm für seine damalige Arbeit zu danken.
Im persönlichen Gespräch berichtete Thomas Mauch mir nachher noch, er habe sich gar nicht mehr an seine damalige Arbeit erinnert, erst beim Ansehen der damaligen Filmausschnitte, in denen er auch persönlich von Reitz angesprochen wird, sei die Erinnerung in ihm geweckt worden.
Ausklang
Beim abschließenden von der if…productions organisierten Empfang im Literaturhaus gaben sich neben Edgar Reitz und Salome Kammer sowie Produzent Ingo Fließ und Co-Regisseur Jörg Adolph zahlreiche prominente Gäste ein Stelldichein, unter anderem: Gert Heidenreich (Co-Autor von Die andere Heimat und Leibnitz), Christiane Schleindl (s. o.), Jan-Dieter Schneider, Melanie Fouché, Barbara Philipp und Antonia Bill (Darsteller/innen in Die andere Heimat), Henry Arnold (Darsteller des Hermann Simon in Die zweite Heimat und Heimat 3), Schauspieler, Regisseur und Filmemacher Michael Kranz, viele der im Film mitwirkenden einstigen Schülerinnen, Thomas Mauch mit seiner Begleiterin Bärbel Freund, und auch das Pro-Winzkino Simmern war durch Jürgen Prinz vertreten.
- Quelle: https://www.ifproductions.de/projects/filmstunde_23/ [↩]