Bericht von den HEIMAT-3-Premieren in München (18./19.9.2004) und Simmern (25./26.9.2004)
Vorbemerkung
Das Schreiben dieser Zeilen erfordert eine präzise Absichtsklärung: zu viel vorweg zu nehmen wäre sicher ebenso falsch wie Ihrem Informationsbedürfnis durch nebulöse Formulierungen nicht gerecht zu werden. Jedenfalls bin ich kein Filmkritiker, und das akute Gefühl, einen sehr guten, außergewöhnlichen Film gesehen zu haben, kann ich nicht durch wissenschaftliche Kategorien, Termini und Analyse rechtfertigen. So werde ich es nun, einen Tag nach der Premiere in Simmern, zunächst dabei belassen, diesen Text als eine Auflistung von Gedanken zu verstehen und zu konstruieren, Gedanken, die mir beim Sehen, beim zweiten Sehen oder jeweils danach gekommen sind. Fühlen Sie sich herzlich eingeladen, mir zu widersprechen, meine Aussagen zu ergänzen oder zu konkretisieren.
Zwei Premieren – Zwei Welten
Für jemanden, der sich üblicherweise nicht im Milieu der Filmemacher und -kritiker bewegt, bedeutet eine Einladung zur Deutschlandpremiere von HEIMAT 3 in das Münchener Prinzregententheater eine Stippvisite in einer anderen Welt. Eine atemberaubende Erfahrung, und die kurze Zeit zwischen den Filmen reichte längst nicht aus, um all das zu erledigen, was denkbar gewesen wäre. Selbst zum Essen und Trinken kamen ReindeR, Raymond und ich kaum – einmal ganz abgesehen von der großen Freude, die beiden endlich persönlich kennen zu lernen. Neben fast allen Hauptdarstellern der dritten HEIMAT waren zu meiner großen Freude auch Marita Breuer, Karin Rasenack und Jörg Hube, diese bleibenden Eindrücke aus der ersten HEIMAT, anwesend, und, ich gebe es offen zu, das gemeinsame Foto mit Frau Breuer und Herrn Hube (siehe links) musste – primitivstes Fanverhalten hin oder her – dann doch sein. Die erstaunlichste Erfahrung jedoch: selbst von wildfremden Menschen erkannt und angesprochen zu werden, “Sie sind doch der mit der grünen Internetseite” – unglaublich, und dann auch noch darüber interviewt zu werden, von Lothar Spree und von Sabine Mahr vom SWR …
In Simmern angekommen begrüßte mich Marga Molz eine Woche später prompt mit den Worten: “Ich wusst, dat sie komme, ich hon sie doch gestern noch im Radio gehört.” Man fühlt sich gleich heimisch, unter Freunden. Das halbe Kino hat irgendwie an der dritten HEIMAT mitgewirkt, ob als Darsteller oder im Hintergrund, alle stecken voll begeistertem und begeisterndem Erzähldrang. Unglaublich: wo immer Filmteams ihr Werk verrichtet haben hinterließen sie für gewöhnlich verbrannte Erde. Und dieser Edgar Reitz hat es geschafft, im Hunsrück zwei Monumentalwerke zu drehen, und niemand ist ihm böse – im Gegenteil: die Menschen stehen voller Begeisterung und Überzeugung zu ihrem Hunsrück, ihrer Heimat und ihrem großen Meister, der hier am Abend so bescheiden und selbstverständlich auftritt, als sei er nur “e Weilche fort gewes'”, keinesfalls aber der weltberühmte, intellektuelle Filmemacher aus München.
Von Langsamkeit und Präzision
Dass ich die ersten drei Filme in München wie eine Achterbahnfahrt erlebte führte ich zunächst auf eigene Befindlichkeiten und eine verklärte Erwartungshaltung zurück. Aber es wurde auch in der Reflexion deutlich: gerade die ersten drei Filme unterlagen wohl in besonderem Maß dem Einfluss der finanzierenden Fernsehanstalten. Nun, dass die Fernsehgewohnheiten der Menschen sich in den vergangenen zwanzig Jahren verändert haben wird niemand bestreiten, aber dennoch: dass die Wiedervereinigung der zwei, die sich zuvor dreizehn Folgen und sechsundzwanzig Stunden lang verzweifelt gesucht und dann doch nicht gefunden haben, bei gleichzeitigem Fall der Mauer innerhalb von weniger als fünf Filmminuten vollzogen war, verwarf zunächst all meine Hoffnungen im Hinblick auf das Anknüpfen an den lieb gewonnen bedächtigen Reitz’schen Erzählrhythmus. Der Eindruck der übergroßen inhaltlichen Dichte der ersten Filme hat sich beim zweiten Sehen zwar relativiert, aber dennoch: seinen wirklichen eigenen Stil hat Edgar Reitz meiner Ansicht nach erst und gleichzeitig in besonderer Weise mit dem vierten Film wieder gefunden bzw. realisieren können. Nicht nur ihn. Auch die großen Emotionen. Und der Gedanke, dass dieser wunderschöne vierte Film für die TV-Fassung von 132 auf knapp 92 Minuten gekürzt werden musste (vgl. hier), macht mir große Angst.
Wie präzise Edgar Reitz auch diesmal wieder gearbeitet hat wird an vielen kleinen Details deutlich, nicht zuletzt am Ton, der in Surround-Qualität ganz neue Sphären öffnet, die ich bisher nie bewusst in solch liebevoller Weise ausgenutzt fand. Wen stört es da, dass aufgrund des (weitgehend chronologisch strukturierten) Drehplanes offenbar manchmal den Jahreszeiten getrotzt werden musste, dass sich Hermann nach dem Tanken zum Bezahlen wendet, obwohl die Anzeige der Zapfsäule 0,00 zeigt oder auf dem Bahnhof ein Plakat der Telefonauskunft 11833 erscheint, die es im betreffenden Jahr noch gar nicht gab? Nicht zu vergessen: Die liebevolle und authentische Ausstattung, die ohne Mithilfe der Hunsrücker gar nicht möglich gewesen wäre. Am Sonntag Morgen saß ich auf Matkos Moped, seine Besitzer Werner und Ingrid Litzenberger, denen auch die Anzenfelder Mühle gehört, tauchten im Abspann unter “Gute Seelen” auf.
Bewährtes und Neues
Eine besondere Freude waren mir die immer wieder auftauchenden Zitate aus bzw. Bezüge zur ersten HEIMAT. Nicht plakativ, sondern behutsam und angemessen. Hier nur einige Beispiele, an die ich mich erinnere, für weitere Hinweise bin ich sehr dankbar:
– “Freundlich, freundlich …” weist Clarissa Gunnar, Udo und die Bankangestellten an, als sie sie fotografiert, so wie einst der Eduard (H3, Film 1). Ebenso die Szene, in der ein Familienfoto zum 50jährigen Bestehen der SIMON-OPTIK aufgenommen wird (H3, Film 3).
– Anton preist die hunsrücker Küche an, einst (H1, Film 10) gegenüber den Geschäftsleuten, die seine Firma aufkaufen wollen, jetzt (H3, Film 1) den Bauarbeitern aus dem Osten.*
– Ernst, der nach wie vor seinem Motto nachhängt: “… immer nur ne kurze Bodeberührung, dann gleich wieder durchgestartet …” (H1, Film 11 / H3, Filme 2 und 5)
– Wie einst sein Vater Anton ist Hartmut der Überzeugung: “… jetzt wird die Welt neu verteilt …” (H1, Film 8), nur dass sich Anton davon heute nichts mehr annimmt (H3, Film 3),
– auch diesmal bringt Ernst wieder eine Frau ins Spiel, die Ärger bereitet: Einst das Klärchen, an die das Hermännchen sein Herz verlor (H1, FIlm 9), nun Galina, die Antons verheiratetem Sohn Hartmut Simon den Kopf verdreht (H3, Film 3),
– Galina läuft durch das Dorf und sucht den Arzt (H3, Film 3), so wie einst Maria als die junge Lotti mit hohem Fieber bei den Simons im Bett liegt und im Dorf die Diphterie umhergeht (H1, Film2),*
– wie im allerersten und zweiten Teil von HEIMAT spielt auch hier eine Marderfalle eine wahrhaft einschneidende Rolle (Film 4).
– Anton, der Fußgänger, spaziert vor dem Auto her (H3, Film 4) wie einst Paul, als er aus Amerika zurückkam (H1, Film 7).*
– Wenn Anton Herzprobleme hat hilft ihm eine Fußmassage, früher (H1, Film 10) von seiner lieben Martha (ihr Todesdatum wird mit 1987 angegeben, leider begegnen wir ihr in H3 also nicht mehr), heute (H3, Film 4) von seiner Lieblings-Schwiegertochter Mara.*
– Antons vergoldete Stiefel tauchen wieder auf, “Fußgänger” (Zitat Ernst) bleibt eben Fußgänger … (H3, Film 4).
– Rote Nelken fallen vom Himmel. Nicht nur zur Ferntrauung von Martha und Anton in Schabbach, als Ernst diese aus dem Cockpit seines Armee-Flugzeuges warf (H1, Film 5), sondern auch vom Loreleyfelsen, als Matko sich von seinem väterlichen Freund Ernst (sic!) verabschiedet (H3, Film 5). Eine wunderschöne, sensible Parallele.
– Hermann erlebt im Traum noch einmal den im Gewitter auf der Straße zurückgelassenen Sarg (H1, Film 11 / H3, Film 6), und die in HEIMAT 3 verstorbenen Verwandten und Freunde treten noch einmal auf.
Weitere Zitate und Analogien finden Sie hier.
Zudem sehen wir eine Reihe guter alter Bekannter:
– Henry Arnold und Salome Kammer als gealtertes Künstlerpaar, niemand hätte jemals im Vorfeld an dieser Besetzung gezweifelt,
– Ernst und Anton, die älteren Simonbrüder, werden ebenfalls wieder von den bewährten Schauspielern verkörpert: Michael Kausch, der in Folge 4 die für mich berührendste Szene des gesamten Filmes prägt, und Matthias Kniesbeck als gealterter “Hunsrück-Tycoon”,
– Manfred Kuhn, der Anton Jakob aus HEIMAT, spielt diesmal den Bürgermeister Toni. Ingrid Isermann, einst “Frau Gauleiter”, seine Frau.
– Die “Evergreens”, die schon zu Marias siebzigsten Geburtstag aufspielten, versüßen diesmal voller Ironie die Taufe von Antons erstem Enkelsohn Mathias Paul Anton (der Saxophonist war damals noch nicht dabei),
– Rudolf Wessely, einst als schräger Emigrant auf Ellis Island präsent, taucht nun, ebenso schräg, als Prophet des Weltuntergangs auf,
– und der Willem ist, wie eh und je und wie auch im richtigen Leben, der Nachbar am jetzt leer stehenden Simon-Haus.
Aber auch neue Gesichter wissen zu überzeugen, gewinnen schnell das Vertrauen des Zusehers. Ich möchte nur das Interesse auf folgende, aus meiner persönlichen Sicht besonders überzeugend dargestellte Figuren lenken: Zuallererst der bei den Dreharbeiten fünfzehnjährige hunsrücker Bub’ Patrick Mayer in der Rolle des Matko, eine solch zentrale Rolle, dass sie sogar mit einem eigenen Musikmotiv bedacht wurde, Peter Schneider und die gebürtige Simmernerin Julia Prochnow, die als Tillmann und Moni das “kleine Glück” so liebenswert verkörpern, Constanze Wetzel unheimlich exakt und stimmig als Mara Simon, Antons Lieblingsschwiegertochter, Christian Leonard, der ein zeitlang beim Woppenrother FC mitspielte und -trainierte, um das Hunsrücker Platt zu üben) als ihr Mann Hartmut Simon und Larissa Iwlewa als seine Geliebte Galina. Und (zugegeben) mein im Vorfeld größtes Sorgenkind, Uwe Steimle, spielt den Gunnar Brehme so intensiv und überzeugend, dass alle vorherigen Besetzungen seiner Person schnell in Vergessenheit geraten.
Wirkliches und Erfundenes
Mehr als in HEIMAT beruft sich Reitz diesmal aber auch auf reale Figuren, die er darstellt. Karl August Dahl z. B., in den Achtzigern Pfarrer und Ikone der Hunsrücker Friedensbewegung (man nannte ihn auch den “Rakten-August”), spielt sich ohne Pathos und Verklärung selbst, und jeder der glaubt, Rudi und Lehnchen Molz seinen erfundene Figuren, weil es so eine Liebe doch nur im Fernsehen gebe, der irrt. Rudi Molz (+ 2002) war tatsächlich Wirt von Schabbach, war tatsächlich, wie Herrmann (H3, Film 1) bemerkt, die “Seele des Dorfes”, er war überdies maßgeblich an der Entstehung von HEIMAT beteiligt. Ihm, seinem Freund, hat Edgar Reitz mit diesem Film ein Denkmal gesetzt. HEIMAT 3 ist neben aller Fiktion auch ein Dokumentarfilm. Sogar das Pro-Winzkino kommt zum Zuge, mit einem handgemalten Großplakat der ersten HEIMAT über der Eingangstür (Film 6), und Wolfgang und Jürgen habe ich als Gäste der Silvesterparty wieder erkannt.
Ausblick
Wann immer Edgar Reitz in diesen Tagen von Reportern gefragt wurde, ob es ein vierte HEIMAT geben werde, so hat er dies mit Verweis auf die schwierigen, aufreibenden Auseinandersetzungen mit den öffentlich-rechtlichen Finanziers verneint. Nach allem, was dieser große Künstler in den vergangenen Jahren an Ignoranz und Respektlosigkeit, ja an Demütigungen über sich ergehen lassen musste, eine nur allzu verständliche Entscheidung. Und doch: Das Ende der dritten HEIMAT könnte nicht offener sein. Sei es der kleine Millionenerbe Namens Mathias Paul Anton Simon, oder Lukas Simon, das junge Talent am Klavier, oder die sich immer noch auf der Suche befindende Tochter Lulu Simone Simon, Edgar Reitz lässt uns schließlich mit vielen offenen Fragen allein und hält sich – trotz aller Dementis – viele neue Handlungsstränge offen.
“Alles woran wir geglaubt haben …”, setzt Hermann in einer Schlüsselszene in Film 4 an, und Ernst fällt ihm ins Wort “… hat uns traurig gemacht.”
Und dennoch: HEIMAT 3 trifft tief ins Herz ohne Illusionen zu rauben, ohne Melancholie oder Resignation zu verbreiten. Der Film macht bei aller bitteren und ernüchternden Realität, trotz aller aufgegriffenen Ängste und Zivilisationsrisiken Lust auf das Leben.
© Thomas Hönemann, 27. September 2004
Veröffentlichung, auch in Auszügen, nicht ohne meine vorherige schriftliche Genehmigung!
* Herzlichen Dank für die vielen zusätzlichen Hinweise auf Parallelen und Zitate an Theresia Sickens-van der Meij.