Informationen rund um die HEIMAT-Trilogie von Edgar Reitz

Die erzählerische Kraft der déjà-vus

Um zu beschreiben, wie nachhaltig Hermann durch sein Erlebnis mit Klärchen traumatisiert ist, setzt Edgar Reitz das Stilmittel der Analogie ein.

Bereits seit langem ist bekannt, wie gerne und geschickt Edgar Reitz besonders im Rahmen der HEIMAT-Trilogie bildliche oder wörtliche Zitate aus seinen eigenen Filmen einsetzt. (Eine umfangreiche Sammlung von Analogien finden Sie hier.) Die Motive dafür mögen höchst unterschiedlich sein. Mag es manchmal dabei “nur” um die Anregung der Aufmerksamkeit der Zuschauer/innen, die sie freudvoll Brücken zwischen den verschiedenen Filmen der Trilogie schlagen lässt, gehen, so sind andere Zitate für die Situation, in der sie spielen, von grundlegender, weit über das direkt sicht- und hörbare hinausgehender Bedeutung.

Ein schönes Beispiel hierfür ist Hermann, den wir zweimal sich bis zur Taille mit einer Bettdecke umhüllend sehen: Im HEIMAT, Film 9 (Hermännchen, 1955-1956) nach dem Besuch auf der Bettritze von Lotti und Klärchen, und im letzten Film der Zweiten Heimat (Kunst oder Leben, 1970) nach der Vereinigung mit Clarissa in Amsterdam.

Hermann Simon 1955 in Schabbach (dargestellt von Jörg Richter) und 1970 in Amsterdamer Hotel Acacia (Henry Arnold)

Die Szene in HEIMAT markiert den Beginn von Hermanns Liebe zu Klärchen, von der wir wissen, dass sie ein für ihn emotional äußerst schmerzhaftes Ende nimmt, das ihn als 18jährigen (1960) sogar dazu verleitet, der Liebe auf ewig abzuschwören. 10 Jahre später, nach einer Reihe von mehr oder weniger nachhaltigen intimen Begegnungen, glaubt er sich für einen Moment bei Clarissa am Ziel seiner Träume. Obwohl er schon früh auf die nichts gutes ahnen lassende Namensgleiche, Klärchen – Clara – Clarissa, aufmerksam geworden ist.

“Ich bin frei”

… sagt er im Amsterdamer Bett stehend in der gleichen Pose wie 15 Jahre zuvor. Als könne er sich mit einem Mal vom Schmerz der Vergangenheit lösen, obwohl er doch (für uns Betrachter ganz symbolisch-offensichtlich) in ihm gefangen ist. Alsbald werden wir Zeugen der Vergeblichkeit dieses Versuches: Anstelle bei Clarissa zu bleiben reist er bereits am nächsten Tag nach Schabbach – in die moralische Enge des Hunsrückdorfes – zurück. Erst 19 Jahre später wird bekanntlich ein Zusammenleben der beiden möglich.

Auffällig ist im Vergleich der Szenenbilder, dass Hermann im nahezu gleichen Winkel zur Kamera gerichtet steht, allerdings spiegelverkehrt – möglicherweise als Symbol einer Umkehr(ung) gemeint. Interessant an den Motiven ist jeweils auch die christliche Symbolik, die mit der moralischen Enge des Dorfes als Umfeld seiner ersten großen Liebe korrespondiert: Im biederen Schlafzimmer in Schabbach hängt ein Gemälde, das Jesus mit Hirten in einem Weizenfeld zeigt. Klärchen und Lotti sitzen darunter aufrecht im Bett. An der Wand in Clarissas Hotelzimmer in Amsterdam bilden die Schatten der Sprossen des Fenster ein Kreuz, wie ein Abdruck der auf ihm lastenden moralischen Enge des Dorfes. Im unteren Teil davon ist der Schatten Clarissas zu sehen. Beide erscheinen dabei in völlig unterschiedlichem Licht: Hermann in warmen braun-orange, Clarissa in kaltem weiß-blau-grau, so als wenn sie trotz der räumlichen Nähe aus verschiedenen Welten seien.

In seiner Autobiographie berichtet Edgar Reitz von einem ähnlichen Erlebnis, wie es im Film Hermann mit Klärchen erlebt, das ihm ermöglichte, diese Geschichte in HEIMAT zu erzählen. Der Brief, den Klärchen Hermann am Neujahrstag 1956 vor dem Bahnhof vom Boppard übergibt, ist, so Edgar Reitz, “ein wörtliches Zitat aus meinem Leben”1. Nach der Verfilmung sei dieses Erlebnis für ihn gewissermaßen verarbeitet gewesen, schreibt er an späterer Stelle. Als ihn seine einstige Partnerin, die ebenfalls Klärchen hieß, nach der Ausstrahlung von HEIMAT anrief, habe er sie nicht mehr erkannt, sie sei wie eine Fremde für ihn gewesen.


  1. Edgar Reitz: Filmzeit, Lebenszeit. Erinnerungen, Berlin (Rowohlt) 2022, S. 91; Autor des Originals ist sein Vater. []