In der Leibniz-Stadt Hannover fand am vergangenen Dienstag, 14.10., eine besondere, von Hauptdarsteller Edgar Selge und Produzent Ingo Fließ begleitete Aufführung von Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes statt. Edgar Reitz musste sein Kommen leider gesundheitsbedingt kurzfristig absagen, wurde jedoch von Selge und Fließ mehr als würdig vertreten.
Im bis auf den letzten Platz gefüllten Saal Graffiti des Kinos am Raschplatz (160 Plätze) standen Edgar Selge und Ingo Fließ dem begeisterten, sehr aufmerksamen und interessierten Publikum Rede und Antwort. Dabei zeigte sich, wie sehr Edgar Selge SICH in Vorbereitung auf seine Rolle in die Biographie des Universalgenies vertieft hatte. In sehr differenzierter und tiefgründiger Weise hatte er auf alle Fragen des Publikums eine schlüssige, erhellende Antwort.
Beispielsweise wies er darauf hin, dass Leibniz kein Philosoph der Künste war, sondern ihm im Gegenteil die Künste recht fremd gewesen seien. Dies zeige sich exemplarisch an seiner Meinung, es gebe keine Zeit im Bild. Und so wird sein Dialog mit der Malerin Aaltje Vermeer zu einem für ihn erhellenden Diskurs zwischen der Wissenschaftsphilosophie und der Kunst, in dem sie eine völlig andere Haltung vertritt: Sie versteht ein Bild nämlich in mehrfacher Hinsicht als gespeicherte Lebenszeit. „Was ich nicht weiß, das kann ich malen.“ – ein Schlüsselsatz, der Leibniz, für den Nicht-Wissen nahezu unerträglich ist, erschreckt und ins Nachdenken bringt.
Als besondere Entdeckung in der Beschäftigung mit Leibniz berichtete Edgar Selge über die Thematik des Verhältnisses von Geist und Materie. Hier hatte Leibniz schon etwas sehr wesentliches erkannt, nämlich dass es in den kleinsten denkbaren Elementen, die Leibniz Monaden nennt, keine Trennung zwischen Geist und Materie gibt. Eine Erkenntnis, die sich auch in der modernen Atom- und Quantenphysik wiederfindet, nämlich dass Atome als kleinste Bausteine aller Materie nur zu einem höchst geringem Anteil aus Materie, größtenteils hingegen aus Energie bzw. Schwingung existieren und somit ein reichhaltiges Informationsfeld beinhalten. „Wenn man sich vorstellt, dass sich die Schwingung eines Atoms möglicherweise verändert, nur weil es beobachtet wird, so kann man durchaus an dieser Theorie, Geist und Materie seien untrennbar, durchaus gefallen finden.“1
Aus seiner Beschäftigung mit Leibniz – auch im Rahmen der intensiven E-Mail-Kommunikation mit Edgar Reitz, die auch im Filmbuch in Auszügen wiedergegeben ist – sei ihm auch folgender Satz in Erinnerung geblieben: „Wir brauchen den Körper, damit der Geist das Licht berühren kann.“ „Auch wenn ich den nicht verstehe werde ich ihn nicht los, weil ich ihn wunderschön finde.“, bekannte Edgar Selge augenzwinkernd. Ingo Fließ berichtete von dem großen Privileg, dass es dank der Studiosituation („One-Location-Film“) möglich gewesen sei, „am nächsten Tag noch etwas zu drehen, was die beiden Edgars sich über Nacht überlegt hatten, was möglicherweise noch spannender und interessanter war“ als die ursprüngliche Version. So etwas sei ansonsten beim Film nicht möglich, da der Drehplan in der Regel so eng gesteckt sei, dass man am nächsten Tag schon im nächsten Motiv unterwegs sei.
Auf die Frage, wie er sich den Charakter Leibniz‘ erschlossen und schauspielerisch umgesetzt habe, antwortete Edgar Selge: „Mir ist es eher fremd, sich eine zu genaue Vorstellung von einer Figur zu machen, und als ich diese Perücke zum ersten Mal aufgehabt und dann an diese schwierigen Texte gedacht habe, habe ich mir gesagt, wenn ich mir jetzt auch noch eine Vorstellung mache, wie diese Figur sein soll, dann lande ich in der totalen Künstlichkeit, und das möchte ich nicht. Und dann habe ich eigentlich nichts anderes versucht, als die Texte im Augenblick des Sprechens nicht nur zu verstehen, sondern sie auch zu meiner Spielpartnerin zu transportieren und gespiegelt zu bekommen, ob sie etwas damit anfangen kann. Somit war ich ganz und gar nur beim Text. Und daraus ist eine Figur entstanden, aber welche das ist, könnte ich Ihnen nicht beschreiben.“
Edgar Selge wies darauf hin, dass Edgar Reitz (insbesondere in HEIMAT) auch oft mit Laiendarstellern zusammengearbeitet habe und vermutlich wie viele Regisseure seiner Generation der Schauspielerei ein gewisses Misstrauen entgegenbringe, „weil die häufig gedacht haben, Spiel und Wahrheit seien Gegensätze. (…) So jemand wie Werner Herzog beispielsweise erzeugte unendlich peinigende Situationen, damit die Schauspieler vergaßen zu spielen. Die Angst bei Edgar Reitz ist möglicherweise, dass wenn Schauspieler mit Situationen umgehen eben nicht ihre Lebenszeit in die Situation und den Dialog Eingang findet, sondern etwas vorfabriziertes und dadurch etwas Totes bzw. etwas, das die Zeit verunmöglicht.“ Und somit sei es für Edgar Reitz sicher etwas Besonderes gewesen, mit einem Ensemble von Menschen umgehen zu müssen, die von ihrem Grundverständnis her Schauspieler sind – und das hat ganz doll funktioniert.“
Gefragt danach, ob Leibniz wegen seines freien, wissensdurstigen Geistes Schwierigkeiten mit der Kirche gehabt habe, antwortete Selge: „Leibniz war im Umgang mit der Macht ein sehr geschickter Mensch. Und er war ein sehr versöhnender Geist. Richtig und falsch gab es für ihn in der Mathematik, das ist die Sprache Gottes, in der Psychologie, Historie, Genealogie und auch in der Physik hingegen gibt es immer Annäherungen und Übergänge zwischen richtig und falsch, das hat ihn viel mehr interessiert.“ Und seine zentrale These der Untrennbarkeit von Materie und Geist weise ja durchaus Überschneidungen mit der Haltung der Kirche auf. (…) „Eines seiner versöhnenden Anliegen in der Zeit nach dem 30jährigen Krieg war die Ökumene.“
Gefragt nach den Proben vor dem Drehen erklärte Edgar Selge: „Beim Drehen muss man mit dem Auffangen der Spontaneität vorsichtig sein, deshalb darf man nicht zu viel proben. Oder man muss so viel Proben wie [Christian] Petzold, dass man sagt wir probieren das bis ins letzte Detail, und die Bedingung dafür ist, dass wir alles nur einmal drehen.“ Ingo Fließ ergänzte: „Oder man macht es so wie Stanley Kubrick oder jetzt Paul Thomas Andersen der auch fünfzig Takes macht, Kubrick sagte ‚bis die Schauspieler leer gespielt sind‘ und dann vergessen dass sie spielen. (…) Ich war überrascht dass Reitz oft gleich den ersten Take nahm, manchmal musste aber einfach ein zweiter Take gedreht werden weil die Schärfe nicht stimmte; die Kamera bewegt sich sehr viel durch diesen engen Raum, wir haben eine geringe Tiefenschärfe, wenig Licht, das heißt man hat nur einen sehr flachen Schärfebereich, das ist sehr anspruchsvoll zu drehen und es ist der Virtuosität des Kameramannes Matthias Grunsky zu verdanken, dass das auf so engem Raum, mit so begrenzten Möglichkeiten so gut gelungen ist … nichts ist ja Zufall in einem solchen Raum, alles ist ausgestattet, die Wände sind gespachtelt und gemalt, alles muss hergestellt werden, und dass es dann trotzdem so lebendig und vielfältig aussieht, dass man nicht am Ende des Films das Gefühl von Armut hat, das war eine meiner größten Befürchtungen, aber die hat sich glücklicherweise nicht bewahrheitet.“
Eine Zuschauerin lobte, wie zeitgemäß und menschendienlich der Film in der aktuellen, mit so viel Unfrieden verbundenen Zeitenwende sei. Er schaffe, wie auch Charlotte es an einer Stelle formuliert, etwas Erlösendes. Edgar Selge wandte dazu ein, dass derzeit allerdings auch die Grundwerte der Aufklärung in Gefahr scheinen: weltweit gebe es derzeit nur noch 29 liberal-demokratisch regierte Länder und hingegen 86 totalitäre Staaten.2 Dies sei ja nicht allein auf die Regierenden zurückzuführen, sondern auch auf die Menschen, die „Müdigkeitserscheinungen in ihrer Existenz mit sich tragen“ und sich gegenüber der Demokratie gleichgültig zeigen.
Abschließend wies Selge, gefragt nach der schwarzen Kammer und der Zettelsammlung, darauf hin, dass es die Bleikammer in Hannover ja tatsächliche gegeben habe, jedenfalls müsse man sich vorstellen, dass „der Leibniz morgens mit so vielen Ideen aufgewacht ist, dass der Tag eben nicht ausgereicht hat, sie alle aufzuschreiben. Er hat in einer unglaublichen Geschwindigkeit auf herumliegende Zettel durcheinander alle Themen aufgeschrieben, und er hatte ja, wie sie bemerkt haben, viele Themen. Der Churfürst von Hannover hat nach Leibniz‘ Tod die Schotten dicht gemacht, hat alles, was schriftlich war, in diese Bleikammer eingesperrt, weil er nicht wollte, dass andere irgendetwas über die Forschung der Genealogie der Welfen herausbekamen, die ihn dazu berechtigte, später König in England zu werden. Und so blieb diese Kammer sehr lange verschlossen und bis heute ist noch nicht jeder Satz entziffert und erforscht, den Leibniz einst niedergeschrieben hat. Gleichzeitig ist es aber auch ein tolles Bild für das Gedächtnis und aber auch den Abgrund in Leibniz und für sein Schaffen, er hat diesen dunklen Raum im Grunde nie so ins Licht bringen können, wie er es gerne getan hätte.“ Ingo Fließ ergänzte einen Fun-Fact, nämlich das sich in diesem Raum während der Dreharbeiten Edgar Reitz mit seinem Monitor und seiner für die Continuity zuständigen Mitarbeiterin aufgehalten habe – samt eines Mikrophons, durch das er aus dem Off Anweisungen geben konnte.
Ingo Fließ wies darauf hin, dass Edgar Selge für seine Rolle als Leibniz für den Jupiter Award als Bester Darsteller (Kino) national nominiert wurde. Sie können sich noch bis 31. Oktober an der Abstimmung beteiligen (die entsprechende Kategorie finden Sie im fünften Tab). Dazu genügt die Angabe einer Mailadresse.
Im persönlichen Gespräch berichtete Ingo Fließ zufrieden, dass der Film inzwischen 50.000 Besucher/innen hatte und eine schöne Kontinuität aufweise, nämlich weiterhin in 106 Kinos gezeigt werde.
In derstandard.at finden Sie ein aktuelles Interview mit Edgar Reitz über den Film anlässlich der Aufführung auf der Viennale am 17.10.



Fußnoten