Am vergangenen Wochenende (8.-10.8.2025) wurden die HEIMAT EUROPA Filmfestspiele mit dem neuen Film von Edgar Reitz, Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes eröffnet, der Mitte September in die Kinos kommt. Edgar Reitz nahm persönlich an den Aufführungen und dem Rahmenprogramm teil.
Freitag, 8. August

Unser Besuch in Simmern begann mit der Fotoausstellung 40 Jahr Pro-Winzkino – ein Gehaichnis im Foyer des Schlosses Simmern. Werner Dupuis und Thomas Torkler, beide einst in Diensten der Rhein-Hunsrück-Zeitung, haben aus ihren umfangreichen Archiven eine Fülle von Material zusammengetragen und dabei offensichtlich auch eine Menge Spaß gehabt.
Nach (staubedingt) achtstündiger Anfahrt traf Edgar Reitz am Abend gerade noch rechtzeitig in Simmern ein, um die Eröffnung der Filmfestspiele samt Aufführung seines neuen Filmes Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes zu begleiten, zusammen mit seiner Ehefrau Salome Kammer, Autor Gert Heidenreich, seinen Darstellern Edgar Selge und Antonia Bill sowie Christoph Hellhake.
Durch den Abend führte SWR-Moderator Holger Wienpahl, der sich in allen Belangen eloquent und gut vorbereitet zeigte und somit die Interviewpartner meist gut ins Gespräch zu bringen verstand. Zur Eröffnung bedankten sich Bürgermeister Dr. Andreas Nikolay und Pro-Winzkino Vorstand Wolfgang Stemann bei den zahlreichen Unterstützern, ohne die die Festspiele nicht möglich wären, und freuten sich auf weitere Jahre.
Anschließend spielte das Ensemble Interchange Stücke aus seinem Programm „The melting voice“ aus der Zeit des Barock, in der Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) gelebt hat. Matija Chlupacek, Flötist des Ensembles, spielt in Leibniz die Rolle eines der Gehilfen des Malers Delalandre, der den Maître durch sanfte Flötentöne zur künstlerischen Höhenflügen zu stimulieren versucht. Chlupacek ist übrigens Schüler von Dorothee Oberlinger, neben Edgar Reitz der zweiten Ehrenbürgerin der Stadt Simmern. Der Komponist der Filmmusik, Henrik Ajax, hatte Themen aus der Titelmusik eigens für das Ensemble arrangiert, die zum Abschluss ihres Konzertes uraufgeführt wurden. Es war eine Freude, diesen jungen Menschen in ihrer Begeisterung für die Musik einer längst vergangenen Epoche zu lauschen.

Vor Aufführung des Filmes, der parallel zum völlig ausverkauften Open-Air-Kino auf dem Fruchtmarkt auch im Kinosaal gezeigt wurde, fand eine Gesprächsrunde statt. Angesichts der mühseligen, achtstündigen Anfahrt freute sich Edgar Reitz: „Es ist das wirkliche Glück, hier zu sein.“ Angesprochen auf Leibniz stellte er fest: „Ich habe 40 Jahre HEIMAT gedreht, aber dies ist wirklich kein Film über den Hunsrück.“ Eine kleine Episode mit lokalem Bezug wusste er dennoch zu berichten: „In den 1950er Jahren, als der Hunsrück zur französischen Besatzungszone gehörte, wurde das französische Schulsystem in Rheinland-Pfalz übernommen, samt der Anforderungen im Abitur. Zu unserem Schrecken war Religion plötzlich ein Hauptfach. Ich war immer so ein Oppositioneller in der Klasse, man hat mir nachgesagt, ich hätte die Werke von Karl Marx gelesen, was nicht wahr ist, die waren mir viel zu dick. Aber immerhin hat der damalige Religionslehrer es für nötig gehalten, mich als einzigen der Klasse im Abitur zu prüfen. Und zu meinem Glück hatte ich wenige Wochen vorher Leibniz gelesen, weil ich mich für Philosophie und Ideengeschichte interessierte. In der Theodizee, einem großen zweibändigen Werk, tritt Leibniz einen wissenschaftlichen Gottesbeweis an. Und nun referierte ich das Gelesene in der Abiturprüfung und bekam damit glatt einen Einser. Und da habe ich gedacht, irgendwann in meinem Leben möchte ich dem Leibniz dafür danken.“
Angesprochen auf die fast neunjährige Arbeitszeit an dem Projekt bekannte Drehbuchautor Gerd Heidenreich: „Als Edgar anrief, habe ich innerlich die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Ich hatte in meinem Philosophiestudium stets einen großen Bogen um Leibniz gemacht, das war mir zu mathematisch, er ist ja der Erfinder der Differential- und Integralrechnung, die hatte ich in der Schule nie so richtig verstanden. Dann weiß man nicht so genau, was meint er mit seiner Idee von der Monade, ist das jetzt die Seele oder nicht, das war mir etwas unheimlich. Und Edgar bringt mich dazu, mich damit zu beschäftigen, ich habe angefangen zu lesen und war sehr fasziniert, vor allem von der Theodizee. (…) Und ich wusste [nach der Zusammenarbeit bei Die andere Heimat], was auf mich zukam. Edgar Reitz ist in großer Hinsicht ein Philosoph, und so ging es in unseren Gesprächen sehr bald um viel mehr als Szenen und Dialoge. (…) Wir haben einen Weg zurückgelegt von einem großen Abenteuerfilm, Leibniz von Hannover nach Berlin nach Wien, Goldtransport, Überfall, alles sehr teuer …“ (E. R.:) „… mit Szenen mit hunderten von Pferden und Reitern, Überfällen und Krieg und zerstörten Städten, es ist ja die Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg, in der Leibniz gelebt hat, damals war die Welt verwüstet, in der dieser Mensch heranwuchs … das wollten wir alles in diesem Drehbuch erfassen und das überschritt sehr bald nicht nur die finanziellen Möglichkeiten, sondern auch unsere eigenen. Ich bin heilfroh, dass wir den Film nicht versucht haben.“
Unter diesem Eindruck und zusätzlich belastet durch die sogenannte Corona-Pandemie sei dann die Idee entstanden, ein Kammerspiel zu schreiben. Gert Heidenreich: „Der große Vorteil dabei war, dass wir die in allen Entwürfen bereits enthaltene Idee, Leibniz wird portraitiert, zum zentralen Thema machen konnten. Es ging somit um die Reduktion all der Themen, die in Leibniz stecken, auf eine Situation.“ E. R.: „Der Dialog zwischen dem Maler und Leibniz war bereits in der ursprünglichen Version ziemlich spritzig, aber eines Tages saßen wir mit unserem Produzenten Ingo Fließ in München zusammen, um uns von dem Projekt zu verabschieden, um zehn Jahre Arbeit zu begraben. Da sagte Ingo im Herausgehen: ‚Was mir am allermeisten Leid tut ist diese Szene, in der Leibniz gemalt wird.‘ Und da kam die Erleuchtung.“ Und so habe Gert Heidenreich binnen vier Monaten den Film in seiner jetzigen Fassung geschrieben. „Uns kam es dabei vor allem darauf an, dass wir nicht einen gedankenschweren Philosophenfilm machen. Wir wollten dieses Universalgenie als das präsentieren, was er war, ein sehr moderner Denker, ein sehr moderner Mensch mit ungeheuren Erfindungen. Und sehr viel Komik entsteht in dem Film aus der Situation, dass er sich nicht gerne portraitieren lässt.“ E. R.: „Und dann ist es nur noch ein ganz kleiner Gedankensprung zu erkennen: auch wir Filmemacher sind ja Bildermacher, auch wir portraitieren Menschen, und das, was zwischen dem Maler und seinem Modell passiert, betrifft eigentlich das Grundproblem der künstlerischen Beschäftigung mit einem Menschen: Die Frage, welche Wahrheit, welche tiefe Erfassung der Person kann überhaupt ein Bild leisten? Kann ein Bild über seine Oberfläche hinaus in die Tiefe einer Persönlichkeit eindringen, kann ein einfaches Bild einen ganzen Menschen erfassen? Mit dieser Frage sind wir an den Film herangegangen, denn das ist die Grundfrage, die für mich beim Filmemachen immer gegolten hat: Welche Wahrheit ist in den Bildern machbar?“
Salome Kammer beschrieb ihren Beitrag an der Entstehung des Filmes vorrangig damit, sich um das persönliche Wohl von Edgar Reitz zu kümmern, sodass er sich wirklich voll auf die Regiearbeit konzentrieren konnte, zudem sei sie ihm aber seit jeher auch stets ein wichtiger Dialogpartner in Regiefragen und künstlerischen Ideen. Mit Verweis auf das Motto des Kultursommers, „Forever young?“, attestierte Moderator Holger Wienpahl Edgar Reitz: „Wenn ich Sie reden höre, dann sind sie so unfassbar jung! Und am Set muss es genauso gewesen sein …?“ Salome Kammer bestätigte: „Ich war fasziniert weil so ungeahnt viel Energie aus ihm herauskam, er selbst bezeichnet ja auch das Drehen als ‚artgerechte Haltung‘, weil es ihm so viel Kraft gibt.“

„Ich kann gar nicht beschreiben, wie aufregend und ungewöhnlich dieser Moment war, als Edgar mich anrief und fragte, ob ich diese Rolle spielen möchte“, beschrieb Edgar Selge seine erste Reaktion. „Leibniz war dabei ganz unwichtig und Edgar Reitz war wichtig. Für mich ist er der Vater des deutschen Films und ich habe aus dieser Generation mein Leben lang kein Angebot bekommen. Und dass das plötzlich einfach so im Raum stand hat mich ungeheuer glücklich und aufgeregt gemacht, und so geht es mir auch gerade, wo ich in seiner Heimatstadt an seiner Seite sitze.“ Bezogen auf seine Rolle äußerte Selge: „Es hat lange gebraucht, bis ich begriffen habe, dass dieser Mensch vollkommen anders ist als ich befürchtet bzw. mir vorgestellt habe. Es ist jemand, der nicht aufhören kann zu denken, und das ist etwas ganz Eigenwilliges und vollkommen Unbürgerliches. Jemand, der morgens aufsteht und so viele Gedanken hat, dass der Tag nicht ausreicht, um sie aufzuschreiben. Jemand, der denkt anstatt zu leben. Und daraus wird eine Art wunschloses Unglück in diesem Leben, und das hat mich irgendwann zutiefst gepackt.“
Antonia Bill, die mit Edgar Reitz bereits für Die andere Heimat zusammengearbeitet hat, beschrieb die erneute Möglichkeit als „Traum, der für mich in Erfüllung gegangen ist. Die andere Heimat war mein erster Film und ich durfte dabei so viel Überwältigendes erleben, was mich danach in allen Arbeiten geprägt hat, in diesem Kosmos zu sein und mit Edgar die Figur und die Geschichte zu besprechen und wie es gelingt, in die Rolle zu schlüpfen, ich habe nichts mehr so empfunden wie diese Arbeit. Ich bin unglaublich froh, nun wieder dabei sein zu dürfen.“ Zu ihrer Rolle: „In meiner Rolle in Leibniz diesen Gedankenfreund zu finden, eine Art lebenslanger Mentor, das war aufgrund der vielen Parallelen zu meinem eigenen Empfinden [der Zusammenarbeit mit Edgar Reitz] eine ganz emotionale Arbeit.“

Edgar Reitz stellte dann noch das frisch erschienene Buch zum Film1 vor. Besonders hob er den darin auszugsweise unter dem Titel „Von Edgar zu Edgar“ enthaltenen E-Mail-Kontakt mit Edgar Selge hervor, insgesamt über 100 Mails, in denen sie gemeinsam die Rolle entwickelt haben. „Das ist etwas Einzigartiges, der Dialog zwischen Regisseur und Hauptdarsteller, der deswegen so wichtig ist, weil das Drehbuch im wesentlichen ja lediglich aus den Dialogen besteht. Und als ich Edgar Selge kennenlernte, sagte der, ’sauschwer zu machen, diese Texte so zu spielen und sprechen, dass man vergisst, dass sie auf Papier geschrieben sind, sondern dass sie aus uns kommen, unsere Sprache sind‘. Und diesen Weg haben wir hier gemeinsam zurückzulegen versucht.“
Auf die Frage, was Edgar Reitz den Zuschauer(inne)n noch in die Aufführung des Films mitgeben wolle, sagte er: „Jetzt bin ich sprachlos. Es war immer so: Der Film spricht entweder für sich oder nicht. Daran können wir nichts mehr ändern, er ist fertig.“
Holger Wienpahl beschloss die Runde mit einem Leibniz-Zitat:
Jeder Moment, in dem du glücklich bist, ist ein Geschenk an den Rest der Welt.
In diesem Sinne wünschte er den Zuschauer(inne)n sehr viele glückliche Momente beim Betrachten des Filmes, auf das die Welt reich beschenkt werden möge.

Samstag. 9. August

Am frühen Samstagabend las Edgar Selge aus seinem 2022 mit dem Literaturpreis der Stadt Fulda ausgezeichneten Buch „Hast du uns endlich gefunden“ (Hamburg 2021), das sich als ein sehr tief gehendes persönliches Erinnerungsbuch der besonderen Art entpuppte. Er erzählt aus der Perspektive des Kindes, das er war, von seiner Kindheit und Jugend als Sohn eines Gefängnisdirektors und Pianisten im ostwestfälischen Herford in den 1960er Jahren. Der Titel ist einem Traum entlehnt, den Selge während der Zeit der Arbeit an dem Buch hatte, in dem er seinen Eltern wiederbegegnet.
„Das Buch ist über fünf Jahre entstanden und es hat sehr lange gedauert, bis ich die richtige Perspektive, den richtigen Ton gefunden habe, um das überhaupt schreiben zu können.“ Im Hinblick auf die Erzählperspektive stellte er klar: „Es ist für mich ein Unterschied, ob man über eine Kindheit redet oder sich vorstellt, man rede aus der eigenen Kindheit heraus. Das hängt damit zusammen, dass alles, was passiert, solange man noch ein Kind ist, viel ungeheuerlichere Dimensionen annimmt, viel schwerer einzuordnen ist als später im Erwachsenenleben, und deshalb war mir diese Perspektive wichtig.“
Selge erzählt von einer nicht leichten Kindheit in der späten Nachkriegszeit, die auch geprägt ist von den Kriegstraumen des Vaters, der, gleichwohl ein feinsinniger Musiker, seine Autorität mit roher Gewalt durchsetzt, und einer Mutter, die dem nichts entgegenhält. Es gelingt ihm, die Nöte des Kindes nachempfindbar darzustellen, gleichzeitig enthält das Buch aber auch humorvolle Passagen, etwa die Schilderung einer der nicht bestandenen Fahrprüfungen der Mutter.
Eine Lesung, die aufgrund ihrer schonungslosen Offenheit im virtuosen Vortrag die Herzen vieler Zuhörer/innen berührte.
Sonntag, 10. August
Die erneute Aufführung von Leibniz am Sonntagmorgen, ergänzt um eine Lesung von Drehbuchautor Gert Heidenreich und die Uraufführung des vom Hunsrück-Museum in Auftrag gegebenen Dokumentarfilmes von Christoph Hellhake wurde zu unserem absoluten Highlight der Tage.
Wir persönlich haben die Aufführung des Filmes im Kinosaal als deutlich tiefer berührend empfunden als die open-air-Vorführung zwei Tage zuvor, zumal letztere immer wieder vom Lärm eines in der benachbarten Gaststätte tagenden Stammtisches gestört wurde. Im Kinosaal eröffnete sich hingegen eine geradezu intime, geschützte Atmosphäre, die ein echtes Eintauchen in den Film ermöglichte.

Die Lesung von Gert Heidenreich mit dem Titel „Wie man einen Leibniz schreibt“ – der Text ist übrigens auch, ergänzt um eine dreiseitige Literaturliste, im Filmbuch zu finden – erwies sich als zutiefst beeindruckend. Die Kombination von inhaltlichem Tiefgang und einer äußerst lebhaften, differenzierten und klug verwendeten Sprache vermochte zu fesseln und begeistern. Deutlich wurde, wie tief sich Heidenreich jahrelang in umfangreicher wissenschaftlicher Recherche in das Werk aber auch die Persönlichkeit Leibniz‘ eingearbeitet hatte, was sich als besonders herausfordernd zeigte, gibt es doch, außer einer frühen Selbstbeschreibung, kaum zeithistorische Dokumente zum Charakter und Wesen des Universalgenies. Dies schließt ein, dass man über das Gefühls- und Liebesleben Leibniz‘ kaum etwas weiß. Dennoch finden sich in seinen Briefen und überlieferten Zitaten Hinweise darauf, dass zu Sophie Charlotte, Königin in Preußen, eine durchaus liebevolle Verbindung bestand, vielleicht eine Seelenverwandtschaft. Gleichzeitig erforderte die Dramaturgie, bei aller historischen Genauigkeit, einige künstlerische Freiheiten, beispielsweise die Anwesenheit von Leibniz bei Sophie Charlottes Tod in Hannover am 1. Februar 1705. Tatsächlich hatte sich Leibniz an jenem Tag noch in Lietzenburg, dem späteren Charlottenburg, aufgehalten, wo er auf die von Charlottes Mann, Friedrich Wilhelm I., zugesagten 1000 Taler Honorar warten musste, anstatt sie direkt zum Karneval nach Hannover zu begleiten. Seine Worte „es ist, als sei das eigene Leben mir entrissen“, sind historisch verbürgt. „Er schreibt ein Gedicht, nicht zur Veröffentlichung, eine Ode aus 29 vierzeiligen Strophen. Sie klingt wie das Epitaph eines Liebenden“ und endet mit den Worten
Kondt auf dem Throne wohl je etwas schöhnres prangen, Als dieses Auges
Blitz, die Freundlichkeit der Wangen, Daraus der edle Geist die süßen Worte
blies?
Glückselig Friedrich, dem Gott dieses überließ!2
Im Anschluss an die Lesung entspann sich ein wundervoller, jegliche Moderation überflüssig machender Dialog zwischen Reitz und Heidenreich, der die intellektuelle aber auch menschliche Nähe der beiden spürbar werden ließ. Heidenreich berichtete darin von den Selbstzweifeln beim Schreiben, besonders ob es gelingen würde, für die „Stimmung zwischen Charlotte und ihm [Leibniz]“ die richtigen Worte und Dialoge zu finden, „das sind ja die riskantesten Stellen für die Spekulation, und ich finde bewundernswert, wie Antonia das gespielt hat.“ (E. R.:) „Als Antonia diese beiden großen Briefmonologe spielte haben wir, das ganze Studio, alle miteinander, ein Tränchen in den Augen gehabt. Wir haben nicht geahnt, dass das in dem Text drin ist, was sie da spielt, dabei spielt sie jedes Wort so wie es da steht.“
Zur Zusammenarbeit mit Edgar Selge berichtete Reitz: „Das war über ein ganzes Jahr hindurch ein täglicher Dialog zwischen uns, die Suche nach der Figur und die Suche nach einer Möglichkeit, diese Dialoge und Texte so zu spielen und sprechen, dass sie seine eigenen werden. Wir haben gesagt, ‚der Leibniz muss Selge werden‘, nicht ‚der Selge muss Leibniz werden‘, und das ist dann irgendwann der Fall gewesen.“ Heidenreich ergänzte: „Es musste eine Sprache gefunden werden, die den Zuschauer(inne)n irgendeine Form von Vergangenheit klar macht, eine Sprache der Barockzeit, aber es kann nicht die Sprache der Barockzeit sein, denn dann verstehen sie nichts. Man kann sie also nur anklingen lassen, und das für eine Figur wie Leibniz, der Deutsch schlechter sprach als Französisch und Latein, …“ (E. R.:) „Deutsch war nicht die Sprache der Philosophie und Wissenschaft, die deutsche Sprache verfügte damals noch nicht über den Begriffsapparat, wie ihn hundert Jahre später Immanuel Kant beherrschte, sondern zu Leibniz‘ Zeiten war Französisch die Sprache des Denkens in Europa, …“ (G. H.:) „… und deshalb gab es natürlich eine große Vernetzung zwischen Deutschland, Holland, Frankreich und Russland, Österreich …“ (E. R.:) „… und das ist für mich die Basis Europas geblieben, das sollten wir alle uns noch einmal vor Augen führen. Europa ist diese Verbindung, die damals entstand.“
Zum Stand der Forschung und Erschließung des Genies Leibniz wies Gert Heidenreich darauf hin, dass die „gesamte kritische, also aufbereitete Edition der Werke von Leibniz, aller Briefe, Aufzeichnungen und Notizen wahrscheinlich erst 2040 abgeschlossen“ sein würde. (E. R.:) „Da haben Wissenschaftler 300 Jahre gebraucht, um seine Hinterlassenschaften zu entziffern …“ (G. H.:) „Von 15000 Briefen sind erst 5000 aufgeschlüsselt, wer ist mit welchem Namen gemeint, worauf wird Bezug genommen …“ (E. R.:) „Aber da müssen wir auch klarstellen: Ein Film will nicht eine solche Figur erschöpfen. Ein Film will eine in sich geschlossene, mit sich selbst stimmige Geschichte sein. Das, was da erzählt wird, ist Fiktion. Jede Figur, ob der Hofmaler Pierre-Albert Delalandre, die Malerin Aaltje van de Meer oder auch sein Adlatus Friedlieb Cantor sind erfundene Figuren; die ganze Situation, die wir hier schildern, der Raum, die Zeit, in der das spielt, ist Fiktion. Wenn es eine Wahrheit gibt, dann muss diese in dem Film an sich selbst gemessen werden. Das ist das Gesetz der künstlerischen Darstellung: Das Kunstwerk ist eine Welt neben der Welt, eine Zwischenwelt.“
Aus dem Publikum kam die Frage nach der Auswahl von Edgar Selge als Darsteller des Leibniz. Edgar Reitz erläuterte: „Das war sehr schnell klar, dass Selge der Richtige war. Wir haben ihn ein Jahr vorher auf der Bühne erlebt, als er die Duineser Elegien von Rilke vortrug; das ist ja nun ein sehr geheimnisvoller Text, ein Text voller Rätsel und schwieriger Metaphern. Der Selge hat die Gedichte so vorgetragen, dass der ganze Saal voller Menschen jedes Wort verstand. Auf einmal wussten wir alle, was der Rilke gemeint hat. Das ist die große Kunst eines Schauspielers, der einen Text so durchdringt, dass er in seiner reinen Wiedergabe schon das Verstehen mitliefert. Und ich dachte mir, einer der das kann, der kann auch den Leibniz spielen, der kann das Denken darstellen anstatt einfach nur zu tun, als ob er denkt. Denn das ist das eigentliche Problem, es sind ja alles Gedanken, die er zu spielen hat, das geht nur, wenn man es in dem Moment wirklich denkt. Man kann Denken nicht mimen, sonst wird es lächerlich. Einen Gedanken vorzutragen, den man nicht hat, entlarvt sich immer sofort. (…) Im Studio war immer, wenn Edgar Selge seine Szene gespielt hatte, ein Moment Stille im Team, weil wir alle miteinander den Gedanken auch wirklich verstanden haben, und es ist für einen Regisseur auch ein interessantes, merkwürdiges Erlebnis, da spielt ein Schauspieler den Text, den man mitverfasst oder mitinszeniert hat, und hat für einen Moment lang das Gefühl, ich kenne den Text gar nicht. Der wirkt aus dem Spiel des Schauspielers heraus mir fremd, und dann wieder erklärt und entschlüsselt und neu geöffnet. So als wären es seine eigenen Worte.“ (G. H., mit Verweis auf die Lesung am Vorabend:) „Es kommt hinzu, dass Edgar Selge auch ein sehr präziser Autor ist und in dieser Rolle so mit Sprache umgehen mag, dass er verstanden wird. Eine ungeheure Genauigkeit in der Beobachtung und der gedanklichen Durchdringung des Beobachteten. Das ist sicher bei einer Figur wie Leibniz von großem Vorteil, dass man einen selbst nachdenkenden, nachdenklichen Schauspieler hat, der in die Tiefe will, der immer noch genauer wissen will, wo kommt das her, was meint er damit? Und der erst dann, nach dem Verstehen, den schauspielerischen Gestaltungsprozess ansetzt.“
Eine Zuschauerin äußerte abschließend ihre Eindrücke in bewegenden Worten: „Der Film macht mir Mut für die Zukunft, Mut am Menschsein und Menschwerden, und auch am Verlauf der Welt. (…) Ich bin nach eigener Beobachtung davon überzeugt, dass sich, wenn sich Menschenseelen intensiv begegnen, eine dritte Kraft von oben dazu gesellt und das Werk dann gelingen wird, und zwar in einer solchen Intensität wie es Ihnen gelungen ist. Ich halte den Film für ein grandioses Werk, weil es, ganz reduziert gesagt, erkennen lässt, dass Licht (auch Erkenntnislicht) und Liebe eins sind, und sie beide sind das Wertvollste, das Wichtigste, das Menschlichste überhaupt. Und das haben Sie in Ihrem Werk so wundervoll zum Ausdruck gebracht. Meinen ganz ganz herzlichen Dank, und ich bin überzeugt, wenn Sie einst über die Schwelle gehen, wird sie Leibniz sehr freudig begrüßen.“

Einer der Zuschauer bedankte sich ausdrücklich für die Sprachkultur der beiden Protagonisten Reitz und Heidenreich. Letzterer merkte dazu an: „Wir leben in einer großen kulturellen Lüge, nämlich ‚alles kann einfach sein‘. Es gibt vieles, das nicht einfach sein kann, das Bemühen braucht, das Anstrengung braucht zum Verstehen. (…) Wir haben den großen Kommunismus der Bildung, alle können alles wissen, weil die KI alles weiß; keiner weiß mehr etwas, aber die KI weiß alles. (…) [Aber] es lohnt sich, wenn man etwas Aufwand mit sich selber treibt und nicht sagt ‚das verstehe ich nicht, kann man das nicht auch in drei Worten sagen?‘ Nein, kann man nicht! (…) Man muss die Zuschauer/innen herausfordern, damit sie etwas Aufwand mit sich treiben und nicht glauben, alles geht einfach, so wie ‚benutzt beim Kochen doch Knorr und Maggi‘ – es schmeckt nicht!“

Edgar Reitz ergänzte: „Das wäre unser Wunsch, dass das Kino endlich zu sich selbst findet und der Ort sei, an dem die Suche nach der tiefen Durchdringung ihren Platz hat. Dazu wollen wir schon immer mit unserem Wirken einen Beitrag leisten.“
Im Anschluss wurde noch die Dokumentation Anmerkungen – Zur historischen Ausstattung des Szenenbildes und der Kostüme von Christoph Hellhake gezeigt. Darin kommen Kostümbildnerin Esther Amuser und Szenenbildnerin Renate Schmaderer zur Sprache und erläutern auf spannende und interessante Weise Details zu ihrer Arbeit an dem Film, beispielsweise die aufwändige Recherche der Kleidung und Raumgestaltung der damaligen Zeit und Suche nach geeigneten, möglichst historischen Materialien zur Umsetzung.
Der Film wird ab dem Kinostart am 18.9. im Edgar Reitz Filmhaus zu sehen sein, wo auch bereits jetzt eine kleine Ausstellung von Originalkostümen und Requisiten aus dem Film vorhanden ist, die etwa ab Oktober noch erweitert werden wird.






Allen Beteiligten, insbesondere den Mitarbeiter(inne)n des Pro-Winzkino Simmern, gebührt ganz herzlicher Dank für die Organisation, Gestaltung und Begleitung dieses Wochenendes, das mit einem Mittagessen (Kürbissuppe und gefüllte Klöße) und der Aufführung einer Auswahl der Geschichten vom Kübelkind zu Ende ging. Wir haben die Tage in Simmern in jeder Hinsicht als sehr bereichernd und als Gehaichnis4 empfunden.
Fußnoten
- Edgar Reitz: Leibniz, Chronik eines verschollenen Bildes. Das Filmbuch, Marburg 2025 [↩]
- zit. nach Gert Heidenreich: Einen Leibniz schreiben, in: Edgar Reitz: Leibniz, Chronik eines verschollenen Bildes. Das Filmbuch, Marburg 2025, S. 73-82, hier: S. 79f. [↩]
- Keine Veröffentlichung jedweder Art ohne vorherige schriftliche Genehmigung. [↩]
- Hunsrücker Platt für Nähe, Wärme, Geborgenheit [↩]